Tantra – der Yogi, der Künstler und der Pandit

Eine Collage zur Erinnerung an Swami Satyananda 1923-2009, Sohan Qadri 1932-2011 und Ajit Mookerjee 1915-1990
von Swami Janakananda

Viel wird über Tantra in Indien, in Tibet und im Westen geschrieben. Die echten Tantriker aber schreiben wenig, wenn überhaupt; sie „flüstern“, das heißt, sie geben die Geheimnisse direkt, von Mensch zu Mensch, weiter. So, wie ich es erfahren habe, ist Tantra die ursprüngliche Quelle des Yoga in Indien.
Es sind so manche Vorstellungen von Tantra im Umlauf. Der Gelehrte sagt: „Tantra ist die Quelle der Mantras und Yantras." Der Mann auf der Straße, z.B. in Mumbai oder in Delhi, sagt: „Es geht nur um Sex.“ Anders ist es bei Yogis wie Ramakrishna, Sri Aurobindo, Swami Muktananda und vor allem bei meinem Lehrer und Guru ...

Tantrischer Yoga

Das Gute an unserer Zeit war die Freiheit, die wir hatten, das zu testen und zu üben, was in früheren Zeiten unzugänglich war. Solches wofür Tantra steht: der ursprüngliche Yoga, die Meditationen und die Rituale.

Paramahansa Satyananda in den 1990'er

„Tantra ist in erster Linie eine praktische Wissenschaft und weniger ein intellektuelles Verstehen. Nur Praxis führt zu wahrer Erfahrung und echtem Verstehen. ... Der vielleicht größte Beitrag von Tantra für die heutige Zeit, ist seine Fähigkeit, den Geist nicht nur erklären zu können, sondern uns Techniken an die Hand zu geben, mit denen wir den Geist an sich erleben und ihn schließlich überschreiten können.“
Swami Satyananda

Tantrische Rituale

Durch die Rituale konfrontierst und verwandelst du deine grundlegende Angst. Die Angst, die deine Potenziale und deinen Mut, sie zu benutzen, begrenzt.
               Es gibt Rituale, die dich mit Tod, Einsamkeit oder Sex konfrontieren – Solche Rituale sind oft umfassend. Zum sexuellen Ritual gehört eine lange Vorbereitung: sich selbst physisch und psychisch reinigen, das Haus reinigen, Massage, Yoga und vor allem das Essen vor dem Akt.
               In den späten 1960er Jahren, als ich mit Swami Satyananda in seinem Ashram in Indien lebte, fragte ich ihn nach der Einführung des tantrischen Chakra – dies ist ein Kreis, in dem 16 Paare sitzen, die an einem Sexualritual teilnehmen. Swamiji dachte damals, dass die Zeit für einen solchen Akt nicht reif war.
               Fünf Jahre später, als ich das Buch Yoga, Tantra und Meditation im Alltag schrieb, wollte ich mit der überkommenen Vorstellung aufräumen, dass Yoga nur für Asketen sei – und Yoga ebenso offen beschreiben wie Swamiji es mir gezeigt hatte. Deshalb habe ich das Kapitel über Die tantrische sexuelle Handlung hinzugefügt; dies hat er gebilligt.

„Die Definition eines Rituals ist, dass du dich selbst erst entleeren musst, um dann etwas zu erhalten. Du musst wissen, wie das Ritual funktioniert; wenn du dich nicht entleerst, erhältst du nichts.
Sohan Qadri

Tantrische Kunst

Auf meinen Weg zurück nach Dänemark im Jahr 1970 blieb ich eine Weile in Delhi, wo ich Ajit Mookerjee traf. Damals war er Direktor des Crafts Museum. Sein erstes Buch Tantra Art war gerade erschienen – es überwältigte mich. Ich hatte keine Ahnung, dass Kunst von solch einer hohen Klasse existierte, und dass sie aus dem gleichen Hintergrund und aus der gleichen Tradition wie der Yoga und die Meditation kam, in die ich in den Jahren mit Swamiji eingeweiht wurde.

Ajit Mookerjee 1973 im Haa Retreat Center

„Diese Kunst ist kein Beruf, sondern ein Weg zur Wahrheit und Selbstverwirklichung, sowohl für den Schöpfer als auch für den Zuschauer.“
Ajit Mookerjee

Swamiji hatte mir die tantrischen Yantras und Symbole gezeigt, und jetzt bestätigten die yogischen Künstler meine Erfahrungen auf eine überraschend neue und inspirierende Weise.

„Um die rätselhafte Stille zu durchdringen, hat der Shilpi-Yogin die yogischen Prozesse angewandt (...) Was der Shilpi-Yogin durch Form und Farbe erreicht, bezieht sich auf sein spirituelles Wachstum.“
Ajit Mookerjee

„Jegliche Handlung, die ein Mensch mit Bewusstheit ausführt ist Yoga. Einen Chapati zu machen, ist genau so sehr Yoga für mich, wie ein Bild zu malen, zu kochen oder etwas zu denken.
               Für den Maler ist es die leere Leinwand hungrig mit offenem Mund, und wenn du diese Leinwand nicht mit etwas fütterst, wirst du nie das Bild gemalt bekommen. Du bist das Essen, der Künstler ist das Essen. Er muss sich ganz verschlucken lassen So funktioniert ein Ritual.“

Sohan Qadri

Der Künstler und Dichter Sohan Qadri, wuchs in einem Dorf in Punjab in Nordindien auf, in einem Milieu, in dem Tantra Teil des Lebens war. Heute ist er als Repräsentant der zeitlosen Kunst des Tantra weltweit anerkannt. Er hatte sich in Kopenhagen niedergelassen und ich traf ihn bald nach meiner Rückkehr nach Dänemark.

Malerei von Sohan Qadri

„Tantra ist die Entdeckung, dass es etwas jenseits des Ästhetischen gibt, jenseits dessen, was wir gewohnheitsmäßig über unsere Sinne wahrnehmen. Das Ästhetische ist durch das Materielle begrenzt worden — sowohl Poesie, Literatur, Malerei als auch ihre Beschreibung sind darauf begrenzt, dass sie schön und angenehm sein sollen.
               Solange du nur durch deine Sinne und Vorstellungen erlebst, solange vermagst du nicht die Magie in einem Bild
[oder im Leben] zu erleben.
               Ich bin nicht gegen Sinneserlebnisse, sie sind bereichernd und geben Zufriedenheit, aber man verbleibt auf der materiellen Ebene —  es wird nicht tiefer nachgeforscht. In der primitiven Kunst hingegen wird damit gearbeitet. Es gibt eine größere Nähe — du berührst andere Ebenen als nur die Sinne. Tantra-Kunst ist nicht nur für die Sinne. Das Symbol erweckt etwas, das jenseits der Sinne ist, jenseits des Ästhetischen
.“

Sohan Qadri

Die sexuellen Rituale

„Es gibt etwas, höher als die Liebe ­- und das ist Einheit.“
Swami Satyananda

Pancha Makar mit Sohan Qadri. Fotograf Torben Huss 1973 in Kopenhagen.

Um die Zeit, als Ajit Mookerjee begann, unseren Ashram in den frühen 1970ern zu besuchen, wurde sein zweites Buch Tantra Asana veröffentlicht. Asana meint hier die sexuellen Stellungen. Wir beschlossen, dies tiefer zu erforschen und von der Theorie zur Praxis des Maithuna Rituals – Chakra-Puja – zu gehen.

„Durch Tantra-Asana befreit Sex uns vom Sex, und wir werden zu einer Ebene kosmischen Bewusstseins befreit. Die Asana selbst ist ein Mittel für den Ausdruck der reinen Freude (Ananda), in der der Yogi und die Yogini erkennen, dass die Elemente und Kräfte des Universums in ihm und ihr sind.“
Ajit Mookerjee

Sohan Qadri wurde mein Sparringspartner und lebenslanger Freund. Mit ihm konnte ich die Grundlagen des Tantra testen und das Wissen über die Tradition, dass ich ursprünglich von Swami Satyananda erhalten hatte, erweitern. Er hatte auch, wie ich allmählich entdeckte, eine tiefe und sowohl praktische wie auch philosophische Kenntnis der sexuellen Seite des Tantra.

Swami Janakananda und Sohan Qadri im Haa Retreat Center in den 1990'er

Tantra ist stets offen für die körperlichen und psychischen Bedürfnisse des Menschen und bezieht sie in das spirituelle Streben des Menschen mit ein. Für diejenigen, die mit sich selbst arbeiten wollten, wurden präzise Methoden entwickelt. Frau und Mann, jeweils mit ihrem Körper und Geist, ihren Hoffnungen und Wünschen, werden nun zum wichtigsten Element des tantrischen Yogarituals. Die Tatsache, dass sie diese Methoden gemeinsam nutzen, auf dem Weg zur Freiheit und Erleuchtung, stellte den Erfolg der Rituale bei der Transformation des Bewusstseins sicher.“
Sohan Qadri

Pancha Makar mit Sohan Qadri. Fotograf Torben Huss 1973 in Kopenhagen

 

„In einem jeden Menschen begegnen sich das Psychische und das Physische im Orgasmus. Und diese Begegnung im Moment der Ekstase nennen wir sexuell.“
Sohan Qadri

 

 

 

 

 

„Beim Beginn einer sexuellen Vereinigung sei achtsam auf das Feuer am Anfang, und indem du dies fortsetzest, vermeide die glühende Asche am Ende.“  
Vigyana-Bhairava-Tantra

 

 

 

Die Tantra-Tradition und die menschliche Evolution

Ab und zu stoße ich auf Missverständnisse, dass der tantrische Kriya Yoga entweder eine ethische Disziplin ist, wie sie in Patantajalis Yogasutras beschrieben ist, oder eine Sexualpraxis. Letzteres basiert vielleicht auf der Idee, dass Tantra immer Sex bedeutet. Der 5000-jährige Text Vigyana Bhairava Tantra enthält jedoch 112 Praktiken, von denen nur vier sexueller Natur sind.

„Natürlich gibt es viele Übungen, die zu Tantra gehören, doch Kriya Yoga zählt zu den kraftvollsten und ist für den heutigen Menschen, der in dieser Welt verstrickt ist, am besten geeignet.“
Swami Satyananda

Kriya Yoga ist keine sexuelle Praxis, auch keine ethische. Ich sehe es als ein Sadhana für diejenigen, die zu einem Punkt in ihrer spirituellen Evolution kommen, an dem sie erkennen, dass sie selbst teilnehmen müssen. Bisher ist die Evolution, von der wir alle Teil sind, von selbst geschehen. Für mich ist wahre Spiritualität, wenn wir bewusst den Schritt machen, an unserer Entwickelung teilzunehmen – wenn wir unseren Weg zur tieferen Identität finden und nicht nur glauben, dass wir die Persönlichkeit auf der Oberfläche sind.

„Ich bin der Seher all dessen, was in mir geschieht. Ich bin unvoreingenommen, ungebunden und klammere mich an nichts fest.“
Swami Satyananda

Swami Satyananda zeigt Maha Mudra aus Kriya Yoga, in BSY, Monghyr 1968

In den späten 1970er Jahren sah ich mich herausgefordert, zu entscheiden, ob die sexuellen Praktiken Teil meines Unterrichts sein sollten. Aber der eher fortgeschrittene tantrische Kriya Yoga (Kundalini Yoga) der dich mit genug Energie versorgt, um einen Unterschied im Leben machen zu können – und auch die anderen tantrischen Meditationen, wie Innere Stille, Yoga Nidra, Prana Vidya usw. (Praktiken, die uns in den 1960er Jahren von Swami Satyananda enthüllt wurden) –lag mir mehr am Herz. Ich entschied mich kreativ, meine Lehre auf diesen wundervollen Sadhana zu ‚beschränken‘.

Natürlich ist eines der grundlegenden Ziele eines tantrischen Prozesses die Fähigkeit, Angst los zulassen und das Bewusstsein zu erweitern – du erkennst, dass die Persönlichkeit und der Geist Werkzeuge für die Seele sind und nicht die wahre Identität.

Wie ich von einem deutschen Retreat-Teilnehmer gehört habe, hatte das deutsche Wort „Geist“ in früheren Zeiten diese Bedeutung: „Schrecken der Seele.“

Gemalt von Carsten Crone Caroc, ein dänischer künstler und yogi

In Vigyana Bhairava Tantra fragt Devi:

”Was ist dieses wundererfüllte Universum?
Was
lässt den Samen entstehen?
Wer bildet den Mittelpunkt des universellen Rads?
Was ist dieses Leben außerhalb aller Form,
dass alle Form durchdringt?
Wie können wir ganz darin aufgehen, erhaben über Raum und Zeit, über Name und Beschreibung?
Lasse meine Zweifel sich erhellen.“

Siva beantwortete diese Fragen nicht mit langen Beschreibungen über die Wirklichkeit, über die sie fragt, sondern mit 112 Andeutungen, die dich zu tiefen und persönlichen – oder jenseits persönlicher – Erfahrungen führen. Mit dieser Führung sagt er implizit: So wirst du sehen:

 

„Dieses sogenannte Universum erscheint als Gaukelspiel, als Bilderfolge.
Um glücklich zu sein, musst du es
so betrachten.“

Und:

„Während du liebkost wirst, süße Prinzessin,
gehe ein in die Liebkosung als in das ewigwährende Leben.“


Die Inspiration für diesen Artikel kam durch die Anfrage der Redaktion von YOGA AKTUELL, einen Artikel im Zusammenhang mit dem Specialheft Yoga der Liebe zu schreiben.

Das Vollbild Unten ist von Bjarke gemalt, ein Künstler und Yogi, der Begründer der Skandinavischen Yoga und Meditationsschule in Bergen, Norwegen.

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